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Seit den Anfängen der Aufklärung bis zum heutigen Tag denken Juden über jüdisches Selbstverständnis und die conditio humana in der Moderne nach. Entstanden ist dabei nicht nur eine moderne jüdische Geschichtswissenschaft, Philosophie und Philologie, sondern auch eine faszinierende Literatur jüdischer Reflexion zu politischen, religiösen, philosophischen und säkularen Fragen. Mit der Shoah und der Staatsgründung Israels hat dieses Nachdenken wichtige neue Bezugspunkte erhalten. Die von Christian Wiese herausgegebene Schriftenreihe setzt sich zum Ziel, schwer zugängliche oder verborgene Quellen und Werke, die zum Verständnis jüdischer Geschichte und jüdischen Denkens seit dem 17. Jahrhundert von Bedeutung sind, in kommentierter und mit wissenschaftlicher Einleitung versehener Fassung neu herauszugeben. Der hebräische Titel der Reihe Mar’ot (“Spiegel”, pl.) verweist auf eine facettenreiche Entwicklung, in der das Judentum in den vielfältigen “Spiegeln” von Tradition, zeitgenössischer Kultur, Integrations- und Diskriminierungserfahrung neue, moderne, vielfach von unterschiedlichen Brechungen bestimmte Identitätsentwürfe des Jüdischen hervorbrachte.
Christian Wiese, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die traditionellen jüdischen Messias-Vorstellungen eine tiefgreifende Reinterpretation. An die Stelle des davidischen Messias-Königs und der Idee eines restaurativen Tempelreiches in Jerusalem traten Vorstellungen von einem idealen Weltenreich des Friedens und von sozialer Gerechtigkeit. George Kohler zeigt anhand von messianischen Texten u.a. von Samuel Holdheim, Salomon Ludwig Steinheim, Samuel Hirsch, Levi Herzfeld und Salomon Formstecher, dass diese neue Lesart des jüdischen Messianismus in der Moderne bereits in den 1840er Jahren beginnt - und nicht erst mit dem Philosophen Hermann Cohen (1842-1918), der in seinem Alterswerk die komplexe Theorie eines nichtpersönlichen ethisch-universalistischen Messiasreiches entwickelte. In den neu editierten Texten wird sichtbar, wie bereits Jahrzehnte vor Cohen eine ausgeprägte messianische Theologie entsteht, in der die Singularität des messianischen Ereignisses durch einen moralischen Prozess der Erziehung der Menschheit abgelöst wird. Das Judentum erarbeitet sich so eine Zukunftsorientierung, die der jüdischen Religion eine Existenzberechtigung in der Neuzeit gibt, weil sie die den beteiligten Denkern als missionarisch für die gesamte Zivilisation gilt.